Deißinger, Th., Ed. (2001) "Berufliche Bildung zwischen nationaler Tradition und globaler Entwicklung. Beiträge zur vergleichenden Berufsbildungsforschung" (Baden-Baden / Nomos-Verlagsgesellschaft) - Bildung und Arbeitswelt, Bd. 5

Trotz eines gewissen "Aufschwungs" der vergleichenden Berufsbildungsforschung in den letzten zehn Jahren hat die Berufs- und Wirtschaftspädagogik diesem Bereich noch nicht die Aufmerksamkeit gewidmet, die ihm zustehen sollte. Hierbei geht es nicht zuletzt um noch ausste­hende Untersuchungen (auch) europäischer Berufsbildungssysteme, zu denen bis­lang lediglich Skizzierungen und Kurzdarstellungen, jedoch nicht die historischen wie auch aktuellen Strukturen und Problemlagen analytisch aufgrei­fende Studien vorliegen. Auch wenn der hier vorgelegte Band diese Lücken nur teilweise schließen kann, stellt er sich doch dem Anspruch, auch bislang vernachlässigte Berufsbildungssysteme im Rahmen auslandspädagogischer Analy­sen in den Blick zu nehmen. Hierbei konstituieren politische, gesellschaftliche und ökonomische Problemla­gen das Interesse an der vergleichenden Berufsbildungsforschung innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Einerseits dürfte es nach wie vor von der europäischen Bildungs- und Ausbildungspolitik abhängen, ob von einer "Existenzsicherung" der unterschiedlichen Systeme ausgegangen werden kann, oder statt dessen die Frage, inwie­weit das Zusammenwachsen Europas eine Konvergenz oder längerfristig gar eine Vereinheitlichung der Berufsbildungssysteme erfordert, die europapolitischen Aufgabenstellungen bestimmen wird. Andererseits zeichnen sich über Europa hinaus "globale" Entwicklungsperspektiven in der Berufsbildungspolitik ab, die sich in Bekenntnissen zu spezifischen Reformansätzen im Bereich der beruflichen Bildung spiegeln und die zweifelsohne auch in einer gewissen Wechselwirkung mit der europäischen Berufsbildungspolitik zu lokalisieren sind. Zu diesen Reformambitionen gehören die Dualisierung beruflicher Bildung im Rahmen "alternierender" Konzepte, das omnipräsente Thema des kompetenzorientierten Lernens sowie die Bereitschaft, Ausbildungsgänge so auszurichten, dass sie modular gefügt und damit individuell, lernortübergreifend und lebensphasenunabhängig zugänglich gemacht werden können.

Allerdings sind Berufsbildungssysteme keine einheitlich strukturierten Gebilde, die auf berufsbildungspolitische Modernisierungsthemen homogen reagieren. Dies hat mit ihren spezifischen "Eigenlogiken" bzw. ihren "organisierenden Prinzipien" und damit ihrem nationaltypischen "Charakter" zu tun. Hierbei wird die Grundausrichtung der Berufsausbildung nicht nur durch institutionelle Arrangements vorgegeben, sondern insbesondere durch die gesellschaftlich-kulturelle Verankerung und damit den eigentlich "systemischen" Zweck des Berufsbildungssystems, im Sinne eines mehr oder weniger autonomen gesellschaftlichen Teilbereichs spezifische, von anderen Subsystemen nicht getragene Funktionen zu erfüllen. Lassen sich diesbezüglich beachtliche Unterschiede im europäischen Kontext identifizieren, so sind sie weniger wahrnehmbar in der Binnenbetrachtung des angelsächsischen Kulturraums wie auch - zumindest auf den ersten Blick - der meisten Entwicklungsländer. Unterschiedliche berufsbildungspolitische Lösungsvarianten sind jedoch stets an Regulationsformen des Zusammenhangs von Schule, Betrieb und gesellschaftlicher Reproduktion gekoppelt, die als historisch bedingt anzusehen sind. Zum einen verbieten es die nationalen "Individualitäten", von einem "industrietypischen" Berufsbildungsmodell zu sprechen. Andererseits zeichnet zwar die meisten Entwicklungsländer durchaus ein typischer "Mix" von Problemlagen aus, welche sich auf die Entwicklungsbedingungen des Berufsbildungssystems auswirken. Deren Lösung wird jedoch keineswegs unter Rückgriff auf ein spezifisches "westliches" Vorbild angestrebt.

Die Beiträge zu diesem Sammelband ordnen sich deshalb auch nicht einem einheitlichen Gesichtspunkt unter, weil Reformentwicklungen zwar durchaus international angestoßen werden können, jedoch national umgesetzt werden müssen. Im Zentrum stehen von hierher die Beschreibung der aktuellen Entwicklungen in den hier betrachteten Berufsbildungssystemen und die Frage nach ihrer Orientierung an spezifischen Entwicklungslinien der internationalen wie auch der eigenen, nationalen berufsbildungspolitischen Debatte. Aus deutscher Perspektive ergeben sich Alteritäten zu nahezu allen Ländern vor dem Hintergrund des sehr spezifischen Charakters des Dualen Systems und der Beruflichkeit der deutschen Ausbildungskultur. Dennoch kann partiell durchaus von einer "Vorbildfunktion" der dual(istisch)en Lernortstruktur gesprochen werden. Diese trifft jedoch i.d.R. auf landesspezifische Barrieren - wie im Falle der meisten Entwicklungsländer - oder sie wird - wie im Falle der angelsächsischen Berufsbildungssysteme - durch eine völlig andersartige "Ausbildungsphilosophie" relativiert.

Die Einzigartigkeit der hier betrachteten Berufsbildungssysteme und ihrer Reform- und Entwicklungsperspektiven herauszuarbeiten und nationaltypisch zu konturieren, ist das Ziel dieses Sammelbandes. Es setzt voraus, dass sich die Autorinnen und Autoren jeweilige Akzentuierungen ihrer Themen vorgenommen haben, mit denen sie diese Singularitäten - nicht zuletzt unter Rekurs auf historische, kulturelle und gesellschaftlich-politische Kontextfaktoren - identifizieren. Insofern handelt es sich nicht nur um einen Beitrag zur Modernisierungsdebatte innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, sondern es sollen - vor allem was die außereuropäischen Berufsbildungssysteme betrifft - auch neue auslandspädagogische Erkenntnisse in die vergleichende Berufsbildungsforschung einfließen.